Donnerstag, 28. Mai 2015

chile und der einundzwanzigste mai (2/3)



der 21. mai 2015 begann politisch. der in valparaíso beheimatete kongress war der schauplatz, an dem die praesidentin ihren jahresbericht zur lage der nation abgab, die vergangenen entwicklungen auswertete und vor allem konkretisierte, was in den naechsten zwoelf monaten zu erwarten sei. die diesjaehrige rede stand dabei unter einem besonderen stern, wo doch bachelet eben noch auf grund der vielen faelle der korruption die ganze regierungsmanschaft aufloeste und umstrukturierte. erfahren konnte man das uebrigens ganz unerwartet live - bei einem interview mit don francisco, dem famosen showmaster chiles.
im anschluss der rede begaben sich die staatsvertreter zur plaza sotomayor, der grab- und gedenkstaette des kriegshelden arturo prat. waehrenddessen formierten sich die unzufriedenen im zentrum valparaísos wie auch in anderen staedten und demonstrierten auf den strassen. der 21. mai ist immer auch ein tag des protests. und oft auch ein tag der gewalt.


ein demonstrationsaufruf fuer den folgetag: "22. mai. fuer die expansion des chaos'. es lebe die anarchie. ‚bis alles zerfaellt. denn vergiss nicht, dass jede gewalt gegen diese unterstuetzer der ungleichheit voellig berechtigt ist in anbetracht der ueber jahrhunderte nicht endenden gewalt derer, die uns unterworfen haben‘ - mauricio morales, anarchistischer kamerad, gestorben beim versuch in der gendarmerie-schule eine bombe zu legen.“

nun folgte die zeremonie des festtages, der auch ich beiwohnen durfte. der platz des geschehens war hermetisch abgeriegelt. nur ein paar kinder durften die zaeune ueberqueren und sich von den ordnungshuetenden soldaten die maschinengewehre vorfuehren lassen.


dann marschierten die uniformierten truppen des militaers und der marine schwer bewaffnet im gleichschritt mit viel pathos vorbei an den zuschauern und brachten der praesidentin ihre potenz und einsatzbereitschaft zum ausdruck. schliesslich durften auch noch vereine der folkore traditionelle taenze auffuehren und die zelebrierung des denkwuerdigen jubilaeums abrunden. mir bereitete - vielleicht auch in anbetracht meiner deutschen biografie - all die betonung von staerke, kontrolle und liebe zum vaterland etwas unbehagen.


und dann runzelte ich die stirn. irgendetwas passte hier nicht. nur was? jetzt seid ihr gefragt. dieser blog hat eine kommentarfunktion. bringt zu elektronischem papier, was euch an dem folgenden bild auffaellt. wer mit aufmerksamkeit, dem blick fuers detail, mit wissen und gerne auch mit fantasie und kreativitaet erraet, was an der im foto festgehaltenen situation suspekt erscheint und warum es so ist wie es ist, bekommt ein kleines postalisches praesent von mir. in etwa zwei wochen gibt es die aufloesung…


die praesidentin bachelet (in weiss links im publikum) und weitere staatsvertreter auf der plaza sotomayor inmitten der zeremonie des 21. mais

Sonntag, 24. Mai 2015

chile und der einundzwanzigste mai (1/3)



in deutschland schenkt der monat mai fast jeder woche einen feiertag. so grosszuegig geht man hier nicht mit arbeitsfreien tagen um. trotz der sehr starken katholischen praegung hat man in chile zu anlaessen wie ostern, himmelfahrt, weihnachten oder pfingsten nur wenig oder gar nicht frei. und wenn mal feiertag ist, dann haben die grossen supermaerkte als auch die kleinen lebensmittelgeschaefte meist trotzdem ihre tueren geoeffnet. doch ein besonderer grund bescherte nun auch den chilenen ein verlaengertes wochenende: es war der einundzwanzigste mai - día de las glorias navales - der tag des ruhms der marine. 

ein kleiner blick in die geschichte: nachdem sich in der ersten haelfte des 19. jahrhunderts die suedamerikanischen unabhaengikeitsbewegungen durchsetzten und die spanischen kolonialherren vertrieben worden, befanden sich die noch jungen nationen in einer findungsphase bezueglich ihrer identitaet und territorialen grenzen. so gehoerten etwa teile des heutigen chiles zu peru und auch bolivien beanspruchte eine kuestenregion in der atacama-wueste. doch der streit um land, ressourcen und steuern eskalierte und fuehrte letztlich zum krieg zwischen chile auf der einen, bolivien und peru auf der anderen seite - den chile gewann. la guerra del pacífico, der salpeterkrieg waehrte zwischen 1879 und 1884 und nahm um die 20.000 menschen das leben.
bis heute praegt dieser konflikt massgeblich die wirtschaft, kultur und politik der beteiligten staaten und belastet ihre diplomatischen beziehungen. vor gut einem jahr erst wurde durch den internationalen gerichtshof in den haag die seegrenze zugunsten perus und zulasten chiles neu berechnet. und noch viel tiefer geht der disput mit bolivien, das mit dem krieg den zugang zum meer gaenzlich verlor. zwar wird bolivien die nutzung eines freihafens (in arica) sowie ein transitkorridor von seiten chiles gewaehrt. doch gibt sich der einstige kuestenstaat damit nicht zufrieden und schaltete ebenso den gerichtshof in den haag ein. dabei geht es nicht in erster linie um die anfechtung des damaligen friedensvertrags (1904) sondern vielmehr um die umsetzung vermeintlicher versprechungen zahlreicher chilenischer regierungsmitglieder in den letzten 100 jahren, bolivien einen souveraenen, autonomen, also tatsaechlich eigenen meereszugang zu verschaffen. wie sich das ganze weiterentwickelt, ist ungewiss. es erhitzt in jedem falle die gemueter -  auf politischer wie auf gesellschaftlicher ebene. botschaften unterhalten chile und bolivien schon lange nicht mehr bei ihrem unbeliebten nachbarn. und in dem so patriotisch gefuehrten streit wird es mit der zeit auch nicht einfacher, auf grundlage neutraler informationen position zu beziehen und kuehlen kopf zu bewahren.

lange rede, kurzer sinn: am 21. mai 1879 ereignete sich im norden chiles die sagenumworbene seeschlacht von iquique, die als entscheidender wendepunkt des kriegsverlaufs in die annalen der geschichtsbuecher von chile einging. tragischer held des geschehens ist der chilenische schiffskapitaen arturo prat, der am selbigen tag ums leben kam. seinem schicksal und dem stolz dieser nation wird stets zum jahrestag gedacht. die zeremonie und all ihr drumherum findet am ort seines grabes statt - in valparaíso…

Mittwoch, 20. Mai 2015

la joya del pacifico - das juwel des pazifiks

wenn wir bei fernandas familie in santiago zu besuch sind, sitzen wir oft abends in grosser runde auf der terasse, essen gemeinsam brot, trinken tee und erzaehlen vom leben. nach ein paar stunden ist genug gesprochen worden. dann kommt der moment, an dem alle den tisch leer raeumen, die glaeser mit wein und bier fuellen und die instrumente rausholen. mein schwippschwager carlos ist lang erfahrener strassenmusiker, fernandas neffe cristóbal hobbymusiker. mit gitarre, charango, zampoña und panfloete schmettern sie mehrstimmig bekannte und unbekannte volkslieder, mal heiter, mal traurig, oft politisch. alle singen mit. schwiegermutter elba schuettelt den kopf bei all den kommunistischen und vulgaeren texten. und ich schau einfach nur staunend-schmunzelnd zu.

die familie - (l.o. nach r.u.) neben mir schwippschwager carlos, neffe cristóbal, schwaegerin coté, schwiegervater fernando, schwiegermutter elba, schwaegerin dani, schwippschwager marcelo, die gute fernanda, neffe mateo, nichte sofía

neulich hielt carlos kurz ein. ob ich eigentlich das lied von valparaíso schon mal gehoert haette. ich verneinte. dann stimmte der chor an und reiste in worten und melodien ueber die huegel der geschichtstraechtigen hafenstadt. unser neuer heimatort hat also eine hymne...


nun. und wem das ganze zu schnulzig und altbacken ist, findet hier auch eine etwas modernere hommage an die stadt...

Mittwoch, 13. Mai 2015

warten (2/2)


... waehrend uns an den wochentagen die bewerbungsmaschinerie und das zaehe warten auf antworten fest im griff hat, versuchen wir an den wochenenden weiter rauszukommen und die vielen stunden vor dem rechner mit der tollen natur, kultur und mit freunden zu kompensieren. so setzen wir uns in den bus und fahren ins umland, lernen fischerdoerfer kennen, widmen uns valparaísos kunst und museenlandschaft, gehen in parks, treffen alte bekannte und besuchen santiago.







bei unserem letzten gemeinsamen aufenthalt in der hauptstadt stand ein besonderer anlass an. ich durfte zum ersten mal einer chilenischen trauung beiwohnen. eine cousine von fernanda heiratete. wobei… da geht es schon los. cousine, tante, onkel, so nennt man hier jeden, den man irgendwie gern hat und mit dem man in einer nicht mal zwingend verwandtschaftlichen beziehung steht. bei dem zahlenreichen umfang einer traditionellen chilenischen familie wissen ihre mitglieder oft auch nicht mehr so genau, wo lang eigentlich die aeste ihres stammbaums zum anderen fuehren. nun hatte man uns also recht kurzfristig zur trauung einer „cousine“ eingeladen. es war sonntagmorgen und langsam zeit loszufahren, die wege in santiago sind lang und die strassen oft voll. 


allmaehlich holte mich die innere unruhe ein, waehrend schwiegermutter und toechter sich nochmal und nochmal und nochmal umkleideten und gegenseitig berieten. schwiegervater fernando kennt den wusel. schweigsam rauchte er seine zigarette im hof, waehrend ich nervoes den kopf schuettelte und die uhr im blick behielt. fast auf die minute schafften wir es doch noch puenktlich zur kirche im zentrum. und waren so ziemlich die ersten. eine gute halbe stunde spaeter oeffneten die tueren und wir setzten uns. warteten noch eine halbe stunde. waehrenddessen wurde auch die familie hinter uns ungeduldig. und hungrig. einer von ihnen erklaerte sich bereit zum laden nebenan zu gehen. eine weitere halbe stunde spaeter war es nun endlich soweit. und noch als die braut majestätisch eintrat, verzehrten unsere nachbarn die letzten reste ihres snacks und reichten die raschelnde chipstuete weiter. es folgte eine sehr bibelorientierte zeremonie, die von eine schaar an professionellen fotografen und all den smartphonebesitzern festgehalten wurde. das frisch getraute paar schritt schliesslich durch den gang nach draussen und empfing all die glueckwuensche und einen regen aus buntem reis vor dem tor der kirche. das gemisch aus tradition, konservativen werten und modernem lebensstil hinterliess mich irritiert. und die kirche mit einer bank voller chipskruemel.



in anbetracht unserer bunten neuen heimat und des vielseitigen geschehens in unserem alltag fuehlen wir uns alles in allem von einer sehr anregenden, lebendigen und spannenden szenerie umgeben. ein paradies, um sich nicht in den von zweifel und sorge gepraegten faengen der jobsuche zu verlieren. ich denke oft: arbeitslosigkeit ist echt scheisse. aber es gibt wohl keinen besseren ort als diesen, um arbeitslos zu sein. und: vielleicht mag das warten auch helfen ganz und gar anzukommen.