Sonntag, 22. November 2015

gewiss ungewiss



europa steht in diesen wochen im zeichen des terrors. noch viel fragiler ist der politische, soziale oder religioese frieden auf anderen kontinenten. und auch in chile gibt es ausreichend anlass, mit einem gefuehl der omnipraesenten ungewissheit zu ringen. erdbeben oder vulkane bedrohen die bevoelkerung. raub und gewalt verschrecken die menschen. in manchen stadtvierteln traegt man den dialog bevorzugt mit waffen aus. und nur ganz am rande steht uebrigens auch chile auf der erorberungskarte des sogenannten is. doch mehr als diese punktuellen gefahren mag die alltaegliche auseinandersetzung mit der (drohnenden) armut viele buerger verunsichern. dabei muss sich eine gruppe der chilenischen gesellschaft ganz besonders mit ihrer vulnerabilitaet und finanziellen belastung arrangieren: es sind die alternden menschen.

chile war 1980 das erste land weltweit, das sein rentensystem privatisierte. im zuge der exzessiv wirtschaftsliberalen dikatur pinochets legte man die verwaltung der sozialversicherung in die haende des freien markts. seitdem gibt es die „administradoras de fondos de pensiones“, kurz afp. das sind gewinnorientierte aktiengesellschaften, die im auftrag des staats die rentenbeitraege der buerger verwalten. man kann sich das etwa wie bei einem bankgeschaeft vorstellen. verschiedene anbieter werben um dich und dein kapital. du ueberweist monatlich ca. 13% deines einkommens auf so etwas wie ein persoenliches sparbuch. das institut verwaltet das geld fuer dich und zahlt es spaeter anteilig bei renteneintritt wieder aus.

wer den prinzipien und mechanismen des kapitalismus` nicht abgeneigt ist, wird die grundidee befuerworten: verschiedene private unternehmen konkurrieren miteinander. du waehlst die afp mit den besten vorzuegen fuer dich aus oder wechselst nach belieben den anbieter. das hebt die leistungsfaehigkeit des systems, steigert die rendite und senkt die verwaltungskosten. so bewerten es zumindest zahlreiche wirtschaftsexperten. doch viele chilenen haben da eine ganz andere wahrnehmung. denn es wird kraeftig gezockt und investiert, angelegt und gehandelt. mit deinem geld, deiner rente, deiner zukunft. und manchmal kracht es auch.

gegenwaertig gibt es sechs verwaltungsgesellschaften. geht eine pleite, interveniert der staat. er soll das private rentensystem kontrollieren und regulieren. die durchschnittliche rente betraegt in chile zur zeit etwa 750 €. seit den reformen 2008 unter bachelet wird eine mindestrente in hoehe von etwa 120 € fuer jeden garantiert - egal, ob, wann oder wie viel er in seinem leben eingezahlt hat. immerhin. andererseits: ich koennte damit noch nicht einmal die haelfte unserer kaltmiete finanzieren.

doch vielleicht geht es gar nicht mal primaer um die frage, ob die rente privat oder staatlich verwaltet werden soll. vielmehr sind es die niedrigen loehne und damit auch mickrigen sozialbeitraege, die die maenner mit 65 und frauen mit 60 jahren boese erwachen lassen. viele chilenen zahlen deswegen auch nicht ein, obwohl es pflicht ist. lieber arbeiten sie im informellen sektor und sorgen selber vor, mit dem kauf eines hauses, mit einem privaten geschaeft oder mit kindern. was waere die chilenische gesellschaft nur ohne ihre solidarischen familienbezuege? 

armut, naturkatastrophen oder anschlaege - es gibt viele gruende zur ungewissheit. denn trotz vorsorge und vorsicht, antizipation und glueck: nichts ist sicher. nicht in chile, nicht in europa und erst recht nicht anderswo. aber war es das je? am ende bleibt uns doch vor allem nur eines: das hier und jetzt.

Mittwoch, 18. November 2015

der klang vom ende der welt (4)



portavoz, ein sehr politischer rapper mit viel systemkritik und diesem wunderschoen authentischen video aus santiago



dj manuvers – der geborene chilene verbrachte die meiste zeit seines lebens in den usa und begleitet mit seinen platten ein breites feld an kuenstlern des hip hop. hier mit einem video aus barcelona…



der santiaguino rafael pérez alias dj raff widmet sich als produzent und dj in erster linie dem sprechgesang und der elektronischen musik und ist in der szene global bekannt.

Mittwoch, 11. November 2015

arm oder frei? (2/2)



...ein paar zahlen:

- 5,6 millionen hunde leben in chile. damit kommt auf jeden dritten buerger ein hund. zum vergleich: in deutschland sind es ein paar hunderttausend hunde weniger, bei einer knapp fuenfmal so grossen bevoelkerung.
- die haelfte der hunde in chile sind haustiere. 25% haben einen besitzer, leben jedoch ausserhalb der eigenen vier waende und schauen nur ab und an mal zuhause vorbei. und das uebrige viertel, also mehr als eine million, sind reine strassenhunde.
 - santiago ist eine der staedte mit den meisten frei umherstreuenden hunden weltweit.
- im schnitt werden pro monat gut 4.000 personen in chile von einem koeter gebissen. und das sind nur die gemeldeten faelle. oft greifen aber nicht strassenhunde an sondern die aggressiven haustiere.


strassenhunde sind in chile also sehr zahlreich und sie stellen leider oft eine gefahr fuer ihre umwelt dar. zugleich macht sie ihre ausgestossene situation auch zu opfern, sie leiden unter ihrer armut, dem nahrungsmangel, den gefahren auf der strasse, den uebergriffen und quaelereien von menschen. und sie leiden an krankeiten. an kraetze und infektionen, parasitenbefall, tollwut und tetanus. nur 21 % der chilenischen hunde sind ausreichend geimpft.


nun interveniert der staat. strassenkoeter werden geimpft und sterilisiert. anfang des jahres fuehrte die regierung sogar ein umstrittenes gesetz ein, das das jagen und toeten von wilden hunden auf dem land legalisierte. nach hitzigen diskussionen wurde die neue regelung aber kurz darauf wieder ausser kraft gesetzt, besonders auch wegen der missbrauchsgefahr. die bemuehungen und eingriffe sind alles in allem nur tropfen auf dem heissen stein, nur punktuell, nicht flaechendeckend.


mir stellt sich hier oft die frage: was ist das schicksal des hundes? wie sehr braucht er eigentlich einen besitzer? ist seine natur wirklich fuer den menschen bestimmt oder gehoert er raus? mit meinen eindruecken von hungrigen, verrohrt aggressiven oder blutenden koetern verblasst jedenfalls ein wenig dieses romantisierte bild des autonomen, selbstbestimmten und friedvollen lebens der chilenischen strassenhunde. denn: liegt der grosse vierbeiner nun im schatten der mittagssonne, weil er das genuegsame leben geniesst oder weil er unterernaehrt, kraftlos und todkrank ist? bellt er nur oder wird er bald das bein eines unvorsichtigen kindes hungrig ergreifen? schlendert er gemuetlich durch die stadt oder erwischt ihn das naechste auto? was ist der richtige platz fuer den hund?
 
nun. und von den vielen katzen hier haben wir da noch gar nicht gesprochen… hach…


auch ich hab hier mittlerweile so etwas wie einen vierbeinigen freund gefunden. auf dem weg zu meinem liebsten aussichtspunkt der stadt nahe unserer wohnung, der paseo 21 de mayo, treffe ich ab und an meinen schwarzen kollegen. anfangs versuchte fernanda ihn lautstark und mit nicht jugendfreier sprache zu verscheuchen. denn hast du einmal so einen hund an der backe, bringt dir das oft probleme. er folgt dir, laeuft in deine beine, betritt mit dir das gebiet seiner konkurrenten, der streit beginnt. und du bist mittendrin. aber mein ruhiger gefaehrte ist aeusserst zurueckhaltend und liebenswuerdig. er ist einfach nur dabei, bis sich irgendwann unsere wege wieder trennen. neulich kamen wir mit ihm vor unserem haus an. fernanda und ich gingen durch das tor. und mein schwarzer freund blieb einsam stehen und schaute uns mit grossen augen nach. ist er arm dran oder frei?