Donnerstag, 29. Januar 2015

der puls der hauptstadt



nur etwa 130 kilometer von valparaíso entfernt, zeigt sich santiago ungemein wuseliger, maechtiger, schmutziger, kraefteraubender, hitziger, im sommer um die zehn grad waermer, auch viel voller. allein unser viertel hier, la florida, hat mehr einwohner als ganz valparaíso. es ist ein endloses haeusermeer. hier schlaegt das herz der nation. und es schlaegt laut. 



aber obwohl die menschen nun so nah am geschehen sind, viele unter ihnen auch ihr traditionelles leben auf dem land oder in der kleinstadt im sinne der arbeit und des geldes aufgegeben haben, muessen sie dennoch taeglich ewige reisen auf sich nehmen.  die entfernungen sind immer riesig. und die fahrten unbequem. staendig laeuft man hier, steht, wartet. zusammengepresst in der metro, an der kasse, in der behoerde.
ich habe grosse sympathien fuer santiago, verbinde mit diesem ort wundervolle erinnerungen an meine erste zeit in chile vor zehn jahren und liebe die ausblicke auf die berge und ueber die metropole im morgengrauen oder bei sonnenuntergang.

doch ringt die stadt nicht gerade um eine freundschaft zu ihr. waehrend fernanda hier eine kleine zumba-halle um die ecke gefunden hat, zog ich gestern die sportschuhe an und ging joggen. es war befreiend. und zugleich ernuechternd. im grunde konnte ich in jede himmelsrichtung fuenf kilometer rennen und hatte das gleiche panorama zu erwarten. richtige parks gibt es nur im zentrum und die beeindruckende natur ganz am rande der stadt. so lief ich entlang der stauenden strassen, inhalierte tief den geruch des benzins, brannte unter der sonne, huetete mich vor den aggressiv heransprintenden hunden und so manch verwahrlosten wohnblocks. auch wenn die muehen einer umstrukturierung zu erkennen sind, das „nah“-verkehrssystem ausgebaut wird, fahrradwege entstehen und immer mehr sportgeraete auf kleinen plaetzen zu finden sind, so bietet santiago keinen hohen lebensstandard. und schlicht vieles von dem, was dieses land so reizvoll und einzigartig macht, findet man tendenziell nicht in der hauptstadt.

um uns von den zwaengen santiagos frei zu machen, um manchmal schneller zu sein, auch geld zu sparen und vielleicht auch mehr sitzen zu koennen, haben wir uns nun fahrraeder gekauft. und helme. anders als im sonst so sicherheitsverliebten deutschland besteht hier naehmlich helmpflicht. und auf diesen strassen auch nicht ganz grundlos. als wir unsere raeder stolz eltern gómez albornoz praesentierten, schuettelten sie verwundert den kopf. guter preis hin oder her, wie konnten wir es nur vergessen zu verhandeln? 

die fahrraeder kauften wir waehrend der vierstuendigen wartezeit bei der internationalen polizeibehoerde, wo ich mich in das zivilregister einzutragen hatte. am tag darauf musste ich dann wieder ins zentrum, diesmal um den chilenischen ausweis zu beantragen. es waren wieder vier stunden zu warten. und dabei wird es wohl auch nicht bleiben. denn meine, ja, „sondersituation“ stellt die institutionen hier, und damit mich, vor grosse probleme: in chile setzt sich der erste nachname aus dem des vaters und der zweite aus dem der mutter zusammen. das annehmen eines gemeinsamen nachnamens bei eheschliessung ist nicht vorgesehen und selbst fuer migrationsbehoerden nicht nachvollziehbar. ob ich als gebuertiger arnold und gegenwaertiger gómez albornoz bald meinen ausweis abholen kann, ob es in die naechste runde mit der deutschen botschaft geht und wie ich letztlich hier heisse, ist noch offen. es ist zum schmunzeln. wenn es nicht so viel zeit, diskussionskraft, nerven und geld kosten wuerde.

 
ja. das geld. so sehr ich eigentlich der kapitaliatischen grundidee verfallen bin, so erschreckend finde ich doch die zuege, die der reine kapitalismus annehmen kann. denn obwohl chile mit der praesidentin michelle bachelet von einer sozialistischen regierung gefuehrt wird, gibt es wohl nur wenig laender auf dieser welt, die das kapitalistische prinzip so extrem ausreizen. alles ordnet sich der wirtschaft unter. bildung in der schule und an der uni ist ungemein teuer und verschuldet generationen. krankenkassen decken nur sehr bedingt und begrenzt behandlungen ab. der wassermarkt und die strassen sind privatisiert. wir begeben uns nun gerade an eine der schaltstellen dieses systems, die banken, und eroeffnen ein konto. und stellen fest: alles kostet. das fuehren eines kontos an sich, das abheben, das ueberweisen, selbst das erfragen des kontostands. vielleicht ist die marktorientierung hier sehr krass. vielleicht bin ich aber auch nur ausserordentlich viel regulierung und sozialstaat gewohnt.

wir hatten also viel organisatorisches hier zu erledigen, stehen kurz vor abschluss des mietvertrages, treffen freunde und besuchen konzerte. nun verlassen wir fuer ein paar tage das hause gómez, das zu stosszeiten eher einem gemeindezentrum gleicht mit den vielen besuchen der schwestern, verwandten und der bandproben der folkloregruppe vom neffen cristóbal. 
zweiter auftritt der band kanqui mit frontmann cris im stadtzentrum


morgen fahren wir raus richtung molina, gut 200 kilometer suedlich von santiago, wo die eltern ein ferienhaus auf dem land haben. ich freu mich auf die etwas reizaermere umgebung. und auf eines der schoensten gesichter dieses landes: seine natur. 

Samstag, 24. Januar 2015

valparaíso



wenn das wort “leben” ein urbanes geruest, ein staedtisches sinnbild braeuchte, es waere valparaíso. voller energie, farben, bewegung und ideenreichtum steckt dieser faszinierende, von der unesco ausgezeichnete ort am pazifischen ozean. hinter den zentralen hauptstrassen am fusse der hafenstadt tuermen sich die huegel auf mit ihren bunten haeusern, die sich in allen richtungen verlaufen. die namen der berge verraten viel ueber das ambiente hier - sie heissen cerro bellavista, alegre, los placeres, mariposas. je hoeher man steigt, desto aermlicher, dann auch gefaehrlicher wird es. etwa 270.000 menschen fasst valparaíso, zaehlt man den umkreis mit, sind es fast eine million. ihr alltag bewegt sich irgendwo zwischen typischem trubel eines wirtschaftszentrums, studentischem flair, finanzieller armut, kreativem reichtum, dem sog der kunst, dem beiwohnen einer offenen ausstellung unter freiem himmel in einer der weltmetropolen des graffiti, verruecktheit, systemkritik und gelebter utopie. manche sagen, valparaíso sei die schoenste stadt chiles wenn nicht gar suedamerikas. doch am treffendsten brachte gille, der franzoesische besitzer unseres hostels, das wesen dieses orts auf den punkt. nicht nach chile sei er ausgewandert, sondern in die unabhaengige republik valparaíso. so einzigartig, eigen ist dieser ort.
und er hat uns ergriffen. voll und ganz eingenommen. wir haben das gefuehl, an genau der stelle angekommen zu sein, wo wir zu diesem zeitpunkt leben moechten.

unsere erkundungstouren durch die strassen und gassen, ueber die huegel und entlang der kueste verbanden wir mit der suche nach einer geeigneten wohnung. und trotz unserer erschwerten bedingungen mit der vorausgegangenen terminkoordination aus der ferne zum einen, der kauf- statt mietkultur in chile zum anderen hatten wir eine erstaunlich gute auswahl angeboten bekommen. und sind aller voraussicht nach sogar auch fuendig geworden. doch noch ist trotz beidseitiger zusage nichts in trockenen tuechern. denn der papierkram hier ist nicht ohne. und vor allem muessen wir uns mit so mancher vertraglicher eigenheit arrangieren. so ist es in chile gewoehnlich, dass es bei einem neuen mietverhaeltnis eine erste kuendigungsfrist von 12 monaten gibt. aller sechs monate wird die miete angepasst. und unabhaengig von ersparnissen oder vom regelmaessigen einkommen ist vorgesehen, dass grundsaetzlich ein aval, also eine art mitschuldner hinzugezogen wird. vermietet werden in erster linie apartments mit kleinerer flaeche in hochhaeusern. die bunten haeuschen auf den huegeln hingegen scheinen eher im eigentum der familien zu sein und von generation zu generation weitergegeben zu werden. und so oder so macht ihre bausubstanz auf mich keinen so vertrauenserweckenden eindruck. und das spielt hier eine fundamentale rolle.  grob aller zwei wochen bebt es in dieser gegend ueber dem grad 4 der richterskala. und frueher oder spaeter auch mal deutlich staerker. deswegen ist eine der grundsatzfragen bei besichtigungen, wie das haus den 27. februar 2010 ueberstanden hat, als das letzte richtig grosse erdbeben (mit dem grad von 8,8) stattfand.
fuer eine wohnung mit 60 bis 80 m² in einem sicheren viertel sind etwa 400, 500 euro warmmiete einzukalkulieren. mit unserer erfahrung auf dem umkaempften mietmarkt in muenster fanden wir das ganz entspannt. doch darf man die relationen nicht aus dem blick verlieren. laut oecd stehen einem deutschen haushalt pro monat netto 2.270 euro zur verfuegung, einem chilenischen nur gut 1.000 euro. deswegen ist das bewohnen einer solchen unterkunft wie unserer kuenftigen schon eine privilegierte situation.
fernanda managt bei der ganzen recherche den kontakt, klaert die bedingungen, organisiert den ablauf. ich kaempf mich etwas zeitversetzt durch die formelle sprache der dokumente durch, nick ab, stelle fragen, vergleiche die angebote. und spiele bei den besichtigungen die karte des verlaesslichen deutschen aus. die besitzerin unserer unter umstaenden neuen wohnung sagte uns direkt, dass sie uns haben will, sie vertraut uns, schliesslich komm ich aus deutschland. tja. positive diskriminierung. wenn nun also alles klappt, unterzeichnen wir in den naechsten tagen den vertrag fuer eine wohnung mit meerblick und zugang zum strand ab maerz in valparaíso :).

Montag, 19. Januar 2015

santiago




etwa dreissig minuten vor der landung sahen wir die berge. trockene, asymmetrische huegel und taeler breiteten sich unter unserem flieger aus. es war nur die precordillera, die eigentlichen anden kamen erst jetzt, mit ihren schneebedeckten gipfeln. endlose, massive, wuchtige tuerme, deren anblick den atem raubt. uns wurde klar, dass wir nun da ankommen, womit wir uns fuenf jahre auseinandergesetzt haben. chile. es war ueberwaeltigend, in jeglicher hinsicht. dann sahen wir santiago. beziehungsweise eine dunkle, braune, riesige wolke in der ferne. es ist ein schoenes sinnbild fuer das land, dieser kontrast zwischen beeindruckender schoenheit und der duesteren realitaet vieler.

wir beide, fernanda und ich, strebten seit langer zeit danach, unsere sachen zu packen, rauszukommen und unseren weg in chile fortzusetzen. doch wurde mir in diesen momenten sehr bewusst, dass wir, ob wir wollen oder nicht, unserer unterschiedlichen herkunft tribut zollen muessen. so sehr fernanda in all den jahren deutschland als heimat erlebte und ich fernweh nach chile empfand, so unterschiedlich waren doch unsere gefuehle mit dem beginn dieser reise. fernanda strahlt, ist aufgeregt, in ihrem neuen alten zu hause angekommen und ungemein gluecklich. ich bin vielmehr bewegt von den abschieden von meiner familie und meinen freunden, verwirrt, etwas orientierungslos und brauche zeit, um das alles zu verstehen. eine binationale ehe ist in so vielen facetten bereichernd, doch hat auch ihren preis.

freitagmorgen landeten wir in der pulsierenden grossstadt santiago. klarer himmel und etwa 35 grad gaben uns schnell zu verstehen, wo wir sind. wir liessen uns bei fernandas eltern in la florida nieder, dem vorort der sechs-millionen-metropole, genossen die zeit im hause gómez nach den jahren der distanz, erzaehlten uns von vergangenen ereignissen, lachten viel und assen im schatten der orangen- und avocadobaeume im garten des kleinen wohnung. vater don fernando hat 80 kilo fleisch besorgt, alles bio, eine der zwei kuehe von fernandas grosseltern wurde fuer diesen anlass geschlachtet.
bei einem kleinen abendspaziergang im viertel liess ich dann meine eindruecke etwas sacken, betrachtete die berge ueber der stadt und schlaengelte mich entschlossen an den wie ueblich klaeffenden strassenkoeter vorbei. atmete etwas durch. ich bemerkte, dass ich in einer sackgasse steckte, und die hunde, dass ich hier also nicht hingehoere. der ton wurde aggressiver, dann biss einer der drei zu. die fünf kleinen zahnabdruecke in meiner linken wade sind nun ausdruck meines sinneswandels. bisher fand ich das freie hundeleben auf den strassen chiles eher sympathisch bis amüsant. doch ist es eben auch gefaehrlich, schmutzig, problematisch. fuer mensch wie tier.

nach den tagen bei der familie, etwas in der natur, nach spaziergaengen durch die viertel, der vergeblichen suche nach guten fahrraedern und nach zum verrueckt werdenden und erstmal ergebnisfreien behoerdengaengen bezueglich meines visums  fahren wir morgen (dienstag) raus in unsere eigentliche neue heimat. valparaíso. uns erwarten einige wohnungsbesichtigungen. und wir werden etwas die luft dieser besonderen stadt schnuppern.  unserer neuen heimat.

Montag, 12. Januar 2015

der abschied



wir haben muenster verlassen. dieser abschied mag vielleicht der haerteste gewesen sein. denn die blicke auf den aasee, die fahrradrunden um die promenade, die arbeit und die kollegen und klienten, all das scheint ultimativ abgeschlossen zu sein, waehrend uns leipzig eines tages vielleicht wieder beherbergen wird. 

harte tage des ausmistens unserer alten wohnung liegen hinter uns, voller entscheidungen, was bei unseren zwei gepaeckstuecken pro person logistisch mit nach chile kann, was woanders und wo untergebracht wird, was wichtige erinnerungen sind oder sein werden und was nur falsche anhaenglichkeit ist. und es tat in einer weise auch gut, sich von so viel kram freizumachen. unsere wohnung hatte 34 m² und ich bin immer noch erschrocken, was in so wenig raum ueberhaupt reingepasst hat. 

koerperlich ziemlich zerschunden und innerlich emotional aufgewuehlt fuhren wir nun am vergangenen donnerstag mit einem gemieteten familienbus vollbepackt in meine alte heimat, brachten eine eklige panne mitten auf der autobahn bei kassel glimpflich ueber die buehne und verteilten anschliessend unser hab und gut bei verwandten, freunden und meinen eltern. zwei tage spaeter knallte es. freunde aus muenster, bonn, geithain, berlin, duesseldorf, ingolstadt, tecklenburg, stuttgart, hamburg, lund in schweden und vor allem leipzig kamen und zelebrierten das zusammensein bis in den morgen bei unserer abschiedsfeier am see. oder mit deinen worten, jan:  wir feierten, bis die huette einen keller hatte :). es waren wundervolle stunden mit euch, voller ueberschwang, herzlichkeit, glueck und auch tiefer trauer. habt vielen dank fuer die gemeinsamen stunden!

und nun verbringen fernanda und ich die letzten tage hier bei meinen eltern, atmen nochmal durch, treffen den ein oder anderen und packen unseren kram endgueltig. diesen donnerstag, den 15.1., fliegen wir am abend von berlin ueber paris nach santiago de chile. dort sind wir ein paar tage bei fernandas familie, naechste woche machen wir uns dann auf nach valparaíso und finden mit einem gluecksgriff eine unglaublich preiswerte, zentral gelegene, grosse und moeblierte wohnung mit meerblick. wenn nicht sofort, dann haben wir noch ein paar wochen der weiteren suche, bevor wir nochmal abstand von allem nehmen, drei wochen im februar in boliven und peru reisen. ab maerz geht es so richtig los. aber irgendwie schon jetzt…