Freitag, 25. September 2015

der klang vom ende der welt (3)


la banda en flor - lebendige frauenriege aus cajón de maipo, dem fenster santiagos




camila moreno – landesweit geachtete songwriterin und gesicht der jungen musikkultur chiles


 

chico trujillo - repraesentanten der nueva cumbia chilena, die vielerorts den soundtrack zu parties, hochzeiten oder unabhaengigkeitsfeiern stellt




Montag, 21. September 2015

wucht

achtzehn. dieciocho. das ist in chile nicht irgendeine zahl. spricht man hier von der achtzehn, weiss jeder, worum es geht: die groesste feier des jahres. regelmaessig werden in der woche des 18. septembers strassenzuege und haeuser des ganzen landes in chilenischen flaggen eingehuellt, schulen und geschaefte bleiben geschlossen, folklorische musik droehnt aus allen ecken. kinder und erwachsene lassen drachen steigen und gegeneinander antreten, aus deutschen augen meist viel zu nah am dichten gewirr der vielen stromkabel. es fliesst viel bier und wein, chicha und terremoto. oft traditionell baeuerlich gekleidet versammeln sich die menschen in den eigenen vier waenden, unter nachbarn oder auf jahrmarktaehnlichen plaetzen mit bunten fondas und ramadas. sie feiern in einem exzess an fleisch, musik und gelaechter den fruehlingsbeginn und ihre liebe zum land. anlass fuer diese riesige sause sind die mittlerweile 205 jahre unabhaengigkeit chiles. die geschichte rueckt dabei etwas in den hintergrund. und auch der zorn auf den staat scheint vergessen oder hier und heute nicht von bedeutung. mich fragte man immer wieder, wie man denn die nationale geburt in deutschland so zelebriert. ich dachte an den tag der deuschen einheit, an silvester oder die wm 2006 und zuckte etwas ratlos die schultern. nein, in deutschland gibt es nichts dergleichen.

 

 
fuer die feiertage fuhren fernanda und ich zur familie nach santiago und spaeter aufs land. gerade sassen wir gemeinsam am tisch und assen abendbrot, als ploetzlich eine schaurige geraeuschkulisse einkehrte. unregelmaessig laeutete die schulglocke von gegenueber, glaeser klimperten, sanft ertoente ein leichtes rauschen. routinemaessig schaut man hier in solchen momenten zur decke. die lampen schwangen hin und her. um uns ruckelten die moebel. es bebte. zuegig standen wir auf und stellten uns unter den tuerrahmen. dort ist es am sichersten. in der wohnung koennte etwas zusammenbrechen oder umkippen, draussen wartet gefahr durch strommasten und kabel. unwirklich wippte der boden vor uns. es wurde laut und leise zugleich. und es hoerte nicht auf. eine gefuehlte ewigkeit von ganzen drei minuten wankte der untergrund.

mit diesem fuer chile fast schon alltaeglichen naturereignis gehen die menschen sehr unterschiedlich um. manche sind traumatisiert von dem vergangenen megabeben 2010 und ringen bei ersten seismischen anzeichen nach luft. andere scheinen immunisiert und nehmen es mit einem mueden stirnrunzeln. ich jedenfalls ging erstmal zur nachbarin und kaufte mir eine einliter-flasche bier, um etwas runterzukommen. seit meinem ersten erdbebenerlebnis in chile vor gut drei jahren hat mich dieses phaenomen in den bann gezogen. diese einzigartige wucht der natur, das diabolische rauschen aus dem herzen des erdballs, das ausgesetztsein und die ohnmacht. mit einer mischung aus existenzieller angst und ueberwaeltigter faszination beobachtete ich nun staunend und sprachlos das, was um mich herum geschah. nichts hat mich bisher mehr mit der ureigenen essenz des lebens und mit der fragilitaet dieser welt in kontakt gebracht als die erfahrungen mit dem beben der erde.

im umkreis des epizentrums knapp 300 kilometer noerdlich von uns erreichte das beben eine staerke von 8,3, in der hauptstadt rumorte es mit etwa 7 grad auf der richterskala. selbst in brasilien und dem fernen buenos aires registrierte man die erschuetterungen. die komplette kuestenregion chiles und anderer pazifikstaaten, damit also auch unsere wohnung in valparaíso, mussten evakuiert werden. denn ist ein erbeben hier immer nur die eine seite der medaille. die andere ist der drohende tsunami. beide ereignisse richteten vor allem im gebeutelten norden groessere schaeden an und nahmen mindestens 13 menschen das leben. es ist tragisch und komplettiert diese unfassbare dichte an naturkatastrophen des landes. nach stuermen und ueberschwaemmungen, trockenheit und grossbraenden, einem vulkanausbruch und erdlawinen wurde chile nun also auch von einem beben und einem tsunami heimgesucht. und das alles innerhalb von nur neun monaten! und es geht weiter. allein nach den ersten fuenf tagen registrierte man 545 nachbeben. etwa ein jahr soll es brauchen, bis sich der untergrund wieder etwas beruhigt und gefuegt hat. doch ist das ausmass des schadens bisher ueberschaubar. bei den kuerzlichen beben nepals starben etwa 8.000 menschen, in haiti 2010 waren es sogar 220.000 personen. beide erdbeben fielen schwaecher aus. dass die aktuellen ereignisse in chile einen verhaeltnismaessig geringen schaden anrichteten, ist in erster linie der guten vorbereitung und antiseismischen infrastruktur, den schnellen mechanismen, kuehlen koepfen und sicher auch einer gehoerigen portion glueck zu verdanken.

fuer manchen erscheint das leben hier wie russisches roulette. das weite meer, die massiven berge und bluehenden felder wirken wie ein paradies auf erden. doch innerhalb von sekunden kann dir die gewalt der natur auch alles nehmen. sie ist der preis fuer diese einzigartige geografie. aber erdbeben hin, erdbeben her. einen achtzehnten september laesst man sich deswegen noch lange nicht nehmen und feiert trotzdem. vielleicht auch gerade deswegen.

Samstag, 12. September 2015

ueber grenzen (1/2)



zwischen den nachrichten zu den vielen autodiebstaehlen in santiago, den gerichtlichen prozessen korrupter politiker und den naechsten eskapaden des fussballstars vidal berichten die chilenischen sender hier und da auch von der voelkerwanderung, die sich gerade in europa zuspitzt. die reportagen gehen sehr sparsam mit hintergrundinformationen oder zahlen um, konzentrieren sich eher auf emotionen, harte oder anruehrende szenen begleitet von herzzerreissenden schicksalsmelodien. vor kurzem fuhr mich die metro durch santiago, als  ich auf den installierten bildschirmen ein haus in flammen sah. die ueberschrift lautete: „brennende fluechtlingsheime in deutschland“. am liebsten waere ich sofort vom erdboden verschluckt worden. gluecklicherweise ist das nicht das dominierende bild, das deutschland in seinem umgang mit asylsuchenden abgibt und in chile vermittelt wird.

800.000 fluechtlinge erwartet deutschland fuer dieses jahr. in chile sind es 4.600 - in den vergangenen 10 jahren zusammen! aktuell leben hier 1.750 menschen mit anerkanntem fluechtlingsstatus. die tendenz ist zwar steigend, in diesem jahr nahm man bereits gut 300 schutzsuchende auf und auch sollen sich in den kommenden tagen die tueren fuer 150 syrische fluechtlinge oeffnen. nichtsdestotrotz bewegt sich in chile der einfluss von migration und flucht auf die gesellschaft in ganz anderen dimensionen als in deutschland.

vor gut einer woche nahm ich an der siebzehnten „jornada migratoria“, der jaehrlichen migrationstagung im herzen der hauptsstadt teil. in kleiner gesellschaft mit hohen wuerdetraegern traf man sich in den opulenten raeumlichkeiten des senats. in erster linie ging es hier um die reformierung eines neuen migrationsgesetzes, um visumsprobleme und arbeitserlaubnisse, buerokratische huerden und diskriminierung. themen wie sprache und kultur, religion oder krieg spielten dabei ueberhaupt keine rolle. hier wurde mir der kontrast zur europaeischen realitaet ganz besonders bewusst. der auslaenderanteil in deutschland lag bis vor kurzem bei etwa 9%. in chile sind gerade einmal 2,6% der bevoelkerung einwanderer. der ueberwiegende teil von ihnen kommt aus suedamerika und spricht die gleiche sprache. dass sich chile nur bedingt mit gesellschaftlicher vermischung, mit internationalen kulturunterschieden oder gar mit fluchtursachen auseinandersetzen muss, ist wohl vor allem auf seine abgeschiedene geografische lage zurueckzufuehren.

diese relative homogenitaet stellt den vermeintlichen fremden in chile umso mehr in den fokus. werbetexte von bank oder fitness-studio sprechen ausschliesslich den chilenen an. der blonde ist hier „gringo“, der asiate „chino“, der zentralamerikaner „un negro“. laufe ich durch die strassen, ziehe ich oft neugierige blicke auf mich. und ab und an begruesst mich ein aus der ferne gerufenes „hello my friend“. „how are you?“ ich begegnete dem vormals mit humor und einem schmunzeln. denn ist es nicht abwertend gemeint. peruaner oder bolivianer erfahren da schon viel eher rassismus. doch beginnt mich mehr und mehr diese subtile, unreflektierte form der abgrenzung zu stoeren. denn oft werde ich als tourist wahrgenommen, als person, die zu besuch ist, zuschaut, spass haben will, bald wieder geht. eben kein teil der gesellschaft ist oder werden will. und das macht echte integration beschwerlich...