Montag, 22. Juni 2015

copa america und der protest



wenn die strassen vor unserem haus gesperrt werden, die polizei mit einem massiven aufgebot das bild des viertels praegt und eine ganz angespannte stimmung in der luft liegt, kann das nur zwei gruende haben: es sind studentenproteste. oder es wird fussball gespielt. und gerade kommt beides zusammen.
keine 500 meter luftlinie liegt valparaísos stadion elías figueroa brander von unserer wohnung entfernt. es ist die heimat des traditionsvereins santiago wanderers, dem aeltesten noch bestehenden fussballclub chiles. „santiago“? um es kurz zu fassen: der mythos besagt, dass im gruendungsjahr 1892 bereits eine mannschaft den namen „valparaíso“ in sich trug. in einem geistesblitz an kreativitaet fassten die gruender des neuen vereins den entschluss, sich den namen der nachbarstadt zu eigen zu machen und seitdem irritiert man nicht nur touristen. wenn santiago wanderers meist auch nur irgendwo im unteren mittelfeld der primera división rumduempelt, so bleibt es doch ein verein mit geschichte, herz und kultur. vor wenigen monaten schaute ich mir mal ein ligaspiel gegen palestino an. die stimmung war super. nur geht es hier sehr rau zu und ist bestimmt nicht der paedagogisch geeignetste ort fuer einen familienausflug. 

blick von unserem dach auf das stadion und die fakultaeten

und nun steht das stadion im fokus der globalen aufmerksamkeit. denn chile und damit auch valparaíso sind in diesen wochen austragungsort der copa america, dem kontinentalen pendant zur europa-meisterschaft. waehrend also gerade die universitaets-fakultaeten unseres viertels besetzt werden, furiose studenten auf den daechern rumklettern, barrikaden brennen und steine fliegen, wird gleich nebenan im stadion der sport zelebriert. 

"waehrend ihr den ball rollen seht, kaempft chile um seine bildung"; "universität playa ancha (upla) besetzt"

steine gegen wasserwerfer

die stimmung in den arenen wie im fernsehen ist frenetisch. auf den strassen indes kommt nur wenig an begeisterung auf. fanmeilen oder public viewing gehoeren hier nicht zur fussball-kultur, eher schaut man die spiele bei freunden. und so richtige ekstase gibt es bislang vor allem bei den partien chiles, nicht so richtig bei anderen mannschaften.
ich hatte nun das grosse glueck die vorrundenspiele in meiner stadt besuchen zu können: bolivien gegen ecuador. und peru gegen venezuela. zwei echte klassiker mit grossartigem unterhaltungswert. das publikum ist ein deutlich entspannteres, bunteres, friedlicheres und internationaleres als das der liga. die fangesaenge sind leidenschaftlich, manchmal auch sehr sarkastisch. als ecuador gegen bolivien unterging und dem binnenstaat den ersten copa-sieg nach 18 jahren bescherte, riefen die verlierenden anhaenger hoehnisch „wir haben meer, wir haben meer“ und forderten immer und immer wieder provokativ die „welle“. bei spielen gegen brasilien ist der standardgesang hingegen: „sieben zu eins, sieben zu eins.“ ihr ahnt, warum. 



wie immer und ueberall in chile wird auch dieser besondere anlass von kleinhaendlern genutzt. fast im minutentakt steigt ein verkaeufer ueber die stuehle und deine beine und preist lautstark sein repertoire an. cola, kaffee, hamburger, nuesse, pralinen, chips oder suesses gebaeck. nur bier gibt es nicht. denn das ist hier wirklich besonders: in chilenischen stadien ist striktes alkoholverbot. und nicht nur da. nach der ersten partie wollte ich mit meinem schwippschwager zur feier des anlasses einen trinken gehen. doch alle alkohollaeden im umkreis von etwa einem kilometer waren verpflichtet, bis zu drei stunden nach spielende ihren verkauf einzustellen. und selbst unsere traditionsreiche studenten- und fankneipe „roma“ musste ihre tueren geschlossen halten. mir erschien das suspekt. aber diese harte regelung mag gute gruende haben.

apropos alkohol. der star der chilenischen mannschaft arturo vidal hat gerade an dem trainings- und spielfreien tag einen drauf gemacht und ist betrunken und rasend auf der autobahn mit seinem nigelnagelneuen ferrarie kollidiert. zum glueck ist keiner der beteiligten ernsthaft verletzt worden.  jetzt streitet man in den medien, ob vidal bei seiner dicken akte an verkehrsvergehen nicht langsam mal ins gefaengnis gehoert oder zumindest von der copa suspendiert werden sollte. quatsch. leider streitet man eben nicht kontrovers sondern scheint vielmehr zu hoffen, dass bloss keiner auf die irre idee kommt, ihn von den naechsten spielen auszuschliessen. 

ach ja. die studentenproteste. ab naechstem jahr nun moechte man die studienfinanzierung von 60% der beduerftigen akademikern, und nur dieser, an ausschliesslich staatlichen universitaeten uebernehmen. das ist weit entfernt von den wahlversprechungen der sozialistischen regierung und bringt das fass zum ueberlaufen. schueler, studenten, lehrer und dozenten sind schon lange am ende ihrer geduld und satt falscher verheissungen. die empörung und frustration dringt auf die strasse und artet hier und da in blinder zerstoerungswut aus. doch in den fernsehkanaelen kommt vor allem inhaltlich fast nichts an. viel spannender sind da die reumuetigen bekundungen des weinenden vidals…
 

 
 
das stadion leert sich, waehrend protestler auf den daechern ihrer uni plakate anzuenden

mit diesen zeilen verabschiedet sich nun der blog in die winter- bzw. sommerpause. nach drei wochen in deutschland werde ich ab mitte juli wieder meine eindruecke aus valparaíso und chile an dieser stelle zum besten geben.

Dienstag, 16. Juni 2015

parallelwelten (2/2)

... nach einer halben weltreise durch ein paradies an bergen, verlassenen feldern und kleinen doerfern erreichten wir die justizvollzugsanstalt gut 60 km im norden von santiago. die sicherheitsvorkehrungen und kontrollen am eingang unterbrechen den frieden der fahrt ruede und lassen dich schnell ankommen in dieser anderen welt. hier befindet sich also das publikum, vor dem wir uns in acht nehmen. die menschen, deren handwerk die nachrichten bestimmt und uns taeglich verzweifelt den kopf schuetteln laesst. und mitten unter ihnen unser freund. es ist solch ein komisches gefuehl, einen zweifachen moerder innig zu umarmen und ihn auch noch gern zu haben...
wir unterhielten uns ueber alte zeiten, ueber schoene erinnerungen, ueber lustiges, trauriges, erschreckendes und furchtbares. dann endete die besuchszeit. die haeftlinge verliessen den grossen saal und kehrten zurueck in ihre apartments. anschliessend traten die gaeste aus. erst muetter mit ihren kindern, dann die frauen und zu guter letzt wir maenner. zwischendurch schloss man immer wieder die tore. so blieb ich einige minuten allein mit vier anderen, wirklich duesteren gestalten zurueck in dem kalten raum. und kam nun auch emotional an, im gefaengnis. 

aufgewuehlt, betroffen und zugleich dankbar fuer unsere freiheit machten wir uns auf den langen rueckweg. einen guten teil der strecke fuhren wir in der ueberregionalen metro valparaísos. hier geht es zu wie in einer gewoehnlichen regionalbahn in deutschland. nur, dass kaum eine minute vergeht ohne einen vortrag, ein geschaeft oder eine musikalische einlage. zuerst ergriff uns eine opernsaengerin (!) und bereitete uns gaensehaut. darauf hoerten wir mexikanische liebeslieder, ein nicht enden wollendes floetengebimmel, die rede einer um kleingeld bittenden dame fuer die teure op ihres kindes und eine gitarren-mundharmonika-kombo. waehrenddessen liefen die suessigkeitenverkaeufer den zug auf und ab und priesen unermuedlich ihre wegverpflegung an. gerade holte ich zwei scheine raus, um die cd einer wirklich atemberaubend toll singenden schwangeren studentin und ihres gitarristen zu kaufen, als die polizei eintrat und dem ganzen schauspiel ein ende setzte. denn, so sehr musik und markt auch zum metrogeschehen dazugehoeren mag: es ist illegal. auf langen fahrten kann der ganze wusel auch wirklich viele nerven rauben. und steuern zahlt sicher auch kaum einer der ambulanten haendler. doch darf man nicht vergessen, dass es wirklich oft grosse kunst ist, was die darsteller bieten. und vor allem, dass ihnen kein anderer weg bleibt, um ihre ausgaben fuer familie, studium, wohnung oder gesundheit zu decken. 

entlang der kueste fuhren wir mit dem fahrrad die letzten meter zurueck nach hause, genossen das kraeftige meeresrauschen in dieser warmen nacht und unseren persoenlichen frieden. ich schwelgte in gedanken. was sind das nur fuer unterschiedliche welten, die hier in uns und um uns herum aufeinander prallen? so viele belastete biografien und bittere schicksale, die uns tag fuer tag begegnen. glueck und pech gehen arm in arm. hier ganz besonders.


auf dem weg trafen wir zufaellig eine bekannte. sie warnte uns. die studentenproteste in unserem viertel seien gerade wieder in vollem gange. eben kosteten diese noch zwei menschenleben, brachten einen demonstranten auf grund der polizeigewalt ins koma, es brannten autos und laeden in valparaíso. nun lag wieder traenengas in der luft…

Freitag, 12. Juni 2015

parallelwelten (1/2)



fernandas engagement bei der suche nach arbeit begann erste fruechte zu tragen. endlich bekam sie antworten und einladungen zu persoenlichen vorstellungsgespraechen. nun liegen einige harte bewerbungsverfahren hinter ihr. rollenspiele, reisen in die hauptsstadt, psychoanalytische zeichentests, gruppenbefragungen und bis zu zweieinhalbstuendige sitzungen verlangten einiges von fernanda ab. leider wurde aus den mitunter sehr interessanten stellenangeboten nichts. bis vor wenigen tagen, als ploetzlich ihr telefon klingelte. seitdem arbeitet fernanda in einem montessori-kindergarten in unserem viertel. es ist nur eine einmonatige vertretungsstelle mit 27 wochenstunden. die perspektive ist ueberschaubar und das gehalt reicht noch nicht mal fuer unsere kaltmiete. aber es ist ein anfang. ironie der geschichte ist, dass weder eine ausschreibung noch eine initiativbewerbung zu ihrer anstellung fuehrte. wieder waren es die besagten beziehungen. und diesmal die des deutschen ehemanns…

bei mir ergab sich, abgesehen von einem einmaligen, sehr spannenden lehrauftrag fuer naechstes jahr in deutschland, wiederum nichts neues bezueglich der beruflichen perspektive. das kann manchmal ganz schoen frustrieren. doch hat alles zwei seiten. wenn es auch finanziell um so mehr schmerzt, so finde ich nun dafuer die zeit zur hochzeit meines lieben freundes niels zu reisen und deutschland zu besuchen! zwar weiss ich nicht so genau, ob ich von zu hause wegfahre oder nach hause komme. aber ich freu mich sehr darauf - auf euch.
 
fliege ich oder nicht? ist es die richtige zeit fuer solche ausgaben? wie viel raum fuer diesen luxus goennen wir uns? wie finanzieren wir unsere zukunft? - all diese gedankengaenge beim klicken des „kaufen“-buttons bei der flugbuchung wirkten umso suspekter im kontrast, den wir am gleichen tag erfuhren. denn endlich lernten wir das andere valparaíso kennen. je hoeher man in dieser stadt faehrt, desto aermer wird es. wir fuhren nun ganz hoch. auf den huegel la cruz, dessen bewohner bei einem der groessten braende in der geschichte chiles 2014 fast alles verloren. eines der projekte, das von der spendenaktion fernandas und ihrer freunde profitierte, konnten wir besuchen. die sicht hier oben ist aehnlich atemberaubend wir die schroffe fahrt hinauf im colectivo, dem taxiaehnlichen transportmittel der wahl dieser gegend. die strassen sind nicht geteert, die flaeche von den vielen familien illegal bewohnt, das wasser kann man nicht trinken. man trinkt es trotzdem. 



um die 150 euro pro monat sollen viele der ansaessigen berufstaetigen nur verdienen. weil der ort so hoch liegt, gehen oft an die 50, 60 euro allein fuer die fahrten zur arbeit drauf. die frustrationstoleranz, kreativitaet, freiwilligkeit und inovationskraft der leute ist umso beachtlicher. und trotzdem: weiter entladen kleine betriebe und vielleicht auch privatleute illegal aber kostenfrei ihren muell in den haengen. es ist ein so heikles gemisch mit den  eukalyptus-waeldern rundherum. feuerloescher sind weit und breit nicht zu sehen. und wie hier ein feuerwehrfahrzeug hinkommen will, steht nochmal auf einem ganz anderen blatt. mich beschlich beim anblick der miesen infrastruktur das mulmige gefuehl, dass der naechste grossbrand und die wiederholung des desasters nur eine frage der zeit ist.


der naechste gegensatz zu unserer realitaet ergriff uns nur wenige tage spaeter mit dem besuch eines guten alten bekannten. im gefaengnis…

Montag, 8. Juni 2015

chile und der einundzwanzigste mai (3/3)


der 21. mai ist einer der tage des landes, an dem der eigenen geschichte gedacht und mit viel patriotismus der stolz des chilenischen volkes beschworen wird. auf dem platz der alljaehrlichen zeremonie erklingen pauken und trompeten, bewaffnete truppen marschieren durch die strasse und riesige blau-rot-weisse flaggen chiles stehen gehisst im wind. und ausgerechnet hier und jetzt weht auch eine nationalflagge von deutschland. warum nur?
nach einem grossbrand im jahre 1850 schlossen sich vornehmlich deutsche einwanderer zusammen und gruendeten eine freiwillige feuerwehr. mit dieser initiative warfen sie den ersten stein bei der einfuehrung eines strukturierten feuerwehrdienstes in chile. und sie stehen der stadt noch heute zur verfuegung. die „bomba germania“ ist damit die zweitaelteste feuerwehrkompanie suedamerikas. ihren sitz hat sie just auf der plaza sotomayor, wo die feierlichkeiten des 21. mais stattfinden. mit dem hissen der deutschen nationalflagge am tage des festes liessen sie es sich wohl nicht nehmen, auch ihr bestehen zu feiern.  



uebrigens und auch mit blick auf die vielen waldbraende in der region: in chile gibt es keine oeffentliche berufsfeuerwehr. deswegen sieht man auch immer wieder feuerwehrmaenner vornehmlich an ampeln oder mautstellen der strassen, die mit einer dose um finanzielle unterstuetzung bitten. sicherlich ist es kein schlechter grund zu spenden. dieser gedanke drang sich mir besonders auf, als vor einigen tagen die wohnung unserer nachbarn zwei stockwerke unter uns vollkommen ausbrannte...

einige unter euch waren also der loesung dicht auf den fersen. doch der klare gewinner dieses raetsels heisst niels. kein wunder, bei seiner mir bis dato unbekannten vergangenheit als bombero furioso de valparaíso. mit seinem mir zugesandten foto aus frueheren zeiten hat er seine kenntnisse zur deutschen feuerwehrgeschichte in chile eindrucksvoll unter beweis gestellt.herzlichen glueckwunsch :).

niels links oben unter alten kumpanen